Autobiographie einer Bisswunde

ISBN: 3-933444-64-0
5,00 

„Zwölf Gedichte nur, aber jedes einzelne haut rein. Irgendwie schafft es Julia, kleine, fiese, pointierte Kurzgeschichten in Gedichtform zu schreiben, in denen oft Alltägliches ins Surreale kippt, oder in ein Augenzwinkern oder eine Verzweiflung an der Welt.“ Gerrit Wustmann

Gedichte, 16 S., 5,00 € – ISBN 3-933444-64-0

Julia Mantel, 1974 in Frankfurt am Main geboren, Kindheit und Jugend im Vordertaunus. Studium der Angewandten Kulturwissenschaften in Lüneburg. Zum Broterwerb u.a. als Aktensortiererin, Aktmodell, Call-Center-Agentin, Nachhilfelehrerin, Puppentheaterspielerin und Spargelverkäuferin gearbeitet, ansonsten zahlreiche (unbezahlte) Praktika absolviert. Seit 2000 Konzentration auf Lyrik. Teilnahme an verschiedenen Schreibwerkstätten, z.B. bei Kurt Drawert im Darmstädter »Zentrum für junge Literatur« oder bei Christian Döring in Venedig. 2005 Gründung des Konzeptlabels »Unvermittelbar«: www.unvermittelbar.de; Gründungsmitglied des ehemaligen Frankfurter Lyrikkollektivs »Salon Fluchtentier«. In den letzten Jahren diverse Stipendien.
Einzelveröffentlichungen: »new poems» (2008); »dreh mich nicht um« (2011); »Der Bäcker gibt mir das Brot auch so« (2018); »Wenn Du eigentlich denkst, die Karibik steht Dir zu« (2021); »Easymagic123«, Kunstbuch mit den Malerinnen Bettina Sellmann und Julia Jansen (2022); HORCHDOCHLORCH (Broschüre mit Photos vom und Gedichten über den Aufenthalt in Lorch/Rheingau (2023).
Lebt als Lyrikerin und ansonsten Allroundjobberin in Frankfurt am Main.

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„Autobiographie einer Bisswunde“ der Lyrikerin Julia Mantel ist soeben innerhalb eines Jahres in der zweiten Auflage erschienen. Beim Nischengenre Lyrik keine Selbstverständlichkeit. Riccarda Gleichauf reflektiert darüber, warum Julia Mantels Gedichte beim Publikum so gut ankommen und plädiert dafür, sie in den Kanon der Schullektüre aufzunehmen.

 

Julia Mantel schreibt keine Prosa, weil sie meint, dass sie das nicht kann. Wenn ich mir ihren aktuellen Lyrikband Autobiographie einer Bisswunde anschaue, dann fällt auf, dass sie längst prosaisch schreibt. Im Gedicht KEINE-BLINDEN-FLECKEN geht es zum Beispiel um einen Hautarztbesuch, bei dem das lyrische Ich Angst hat, Hautkrebs zu haben. Zuletzt beruhigt es der Arzt nüchtern:

 

bei Ihnen

wuchert nichts:

Sie haben

lediglich

ein paar

Altersflecken

mehr.

 

Breite, ausschweifende Prosa braucht Julia Mantel gar nicht zu schreiben, weil sie ihr Publikum bereits mit der kleinen Form in Geschichten hineinzieht, die skurril und schonungslos ehrlich das Menschliche im Menschen sichtbar machen. Angst vor Krankheit, Alter, Einsamkeit oder schlichtweg Veränderungen des eigenen Lebens kommentieren ihre Texte humorvoll und manchmal mit moralischem Appell, der aber niemals belehrend, sondern aufmunternd wirkt.

Was Julia Mantels Lyrik besonders kennzeichnet, sind Sprachspielereien, die (tod)ernste gesellschaftspolitische Strukturen entlarven. In (V)ERFOLG(T) seziert sie beispielsweise das Wort „Erfolg“ bis in seine Einzelteile, fügt V und T dazu und fragt provokant, was nach dem Erfolg kommen mag:

 

Der Erfolger?

Wir sind das Volk. Er ist Volker.

Er folgt. Wir folgen.

Wir verfolgen unsere Erfolge.

 

Erfolg macht unfrei. Süchtig nach „mehr“ wirst du zur Gejagten, bis du vor lauter Abhängigkeit Gefahr läufst, dich selbst zu verkaufen, weil du nur noch reagierst, ohne selbstbestimmt zu handeln. (V)ERFOLG(T) ist ein Gedicht bei dem das übergeordnete Thema, der Erfolg, zentral ist. Typisch für Mantels Texte entsteht beim zweiten Lesen die Irritation auf diese zunächst angenommene Eindeutigkeit; bei der dritten Durchsicht eröffnen sich Interpretationsebenen, die Mantel zunächst durch die einfache, klare Sprache überspielt. Diese schafft für die Leser:innen eine aufmunternde Zugänglichkeit, um im zweiten Schritt die Lust an einem tieferen Verständnis an Text und Thema zu wecken. Aus diesem Grund sollte ihre Lyrik Eingang in den Schulkanon finden. Freude an der Lektüre, gepaart mit Möglichkeiten unterschiedlicher Interpretationsansätze, wären den Schüler:innen gewiss.

Auch ruhige, nachdenkliche Töne finden sich im aktuellen Band. DIE VERWAISTE BANK thematisiert die sterbenden Bankfilialen, die wie „letzte Mohikaner“ im Glaskasten die „übriggebliebene Schlange“ bedienen, ohne die Bedürfnisse der vor allem älteren Menschen weiter im Blick zu haben. Zu viel Digitalisierung erzeugt Einsamkeit, scheint das lyrische Ich zu prognostizieren, und ich denke dabei traurig an meinen letzten Einkauf bei ALDI, bei dem ich meine Waren selbst einscannen musste, weil kein menschliches Wesen an einer der vielen leeren Kassen saß, um mich, vielleicht mit einem Lächeln, zu bedienen.

Ein wahres, gerade auch junge Leser:innen empowerndes Kleinod rundet den Band ab, in dem Julia Mantel eine Beruhigungsformel als Reaktion auf den ewigen Leistungsdruck bereithält, den uns Familie und Gesellschaft oft suggerieren. DU BIST DOCH SCHON ETWAS kommt zur Erkenntnis, dass das heideggerianische „Sich-Vorweg-Sein“, im Sinne von, gedanklich immer schon am nächsten Entwurf arbeitend, gar nicht zwingend sein muss. Wichtig ist die Besinnung auf das Jetzt, das Da-Sein:

 

Was willst

du werden

hier auf Erden

 

Vielleicht

will ich mich

erstmal erden

 

Das mit

dem Werden

werden wir

dann sehen.

Textor, Riccarda Gleichauf

Julia Mantel schreibt wie sie denkt, zweimal um die Ecke und dann wieder zurück. Kleine Miniatur-Kurzgeschichten in Gedichte verpackt. Über die Menopause, in der weiße Fahnen gehisst werden am Ende des Blutvergießens, darüber was man diesem „Herrn Spam“ mal zurückschreiben könnte, damit er endlich aufhört uns mit Penisverlängerungen zu belästigen, darüber wie man die Erfolge verfolgt, und daß wir uns vor dem Werden erstmal erden müssen. Ein kluges poetisches Buch, das man einfach in die Tasche stecken kann, um einzutauchen in die Autobiographie einer Bisswunde.

Bernadette Hengst, Musikerin und Aktivistin

Ein Gedichtband, der den Alltag so treffend beschreibt und gleichzeitig immer darüber hinausweist. Kann man sich mehr wünschen? Das ist zeitgenössische Lyrik, wie ich sie mir vorstelle.

Frank Spilker, Musiker und Autor

Julia Mantel verwebt in ihren Gedichten den Alltag mit dem Existentiellen und findet dabei eine Stimme, die zugleich intim und universell ist. Ihre Worte sind oft ironisch, spielen mit den Lesererwartungen. In den Gedichten wie „Du bist doch schon etwas“ fängt sie das Spannungsfeld zwischen Selbstfindung und dem Drang nach ständiger Veränderung mit Leichtigkeit ein, ohne die Tiefe des Themas zu vernachlässigen.

In „Blatt gewendet“ verknüpft JM genauso spielerisch, aber nicht oberflächlich, Banalitäten mit inneren Umbrüchen. Das Bild des Sauce-Bindens und Krawatte-Bindens als Spiegel der verschobenen Prioritäten führt mich auf unerwartete Weise zu einem verzögerten, vielleicht sogar vertagten Verständnis von Liebe.

In „(V)erfolg(t)“ offenbart sie die Absurdität der Leistungsgesellschaft, hinterfragt sich und eben diese Mechanismen – und das mit einem bodenständigen Witz, aber auch mit dem Hinterfragen.

Am meisten mag ich das „(F)ahnen – vom Ende des Blutvergießens“. Hier skizziert sie den Übergang von vergangenen Verletzungen zu einem Akt des Friedens. Die „verblichenen Flecken aus getrocknetem Blut“ als neuer Lebensabschnitt, das Hissen des weißen Laken als Zeichen des Friedens mit sich selbst.

Julia Grinberg, Lyrikerin